Der Fall Kachelmann und die Nullhypothese des Bundesgerichtshofes

Posted on 30. Mai 2011

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© Gerd Altmann / pixelio.de

Man wettet nicht auf den Ausgang eines Strafprozesses? Im Prinzip Ja, aber… würde wohl Radio Eriwan in Bezug auf den Prozess gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann wegen einer angeblichen Vergewaltigung einer seiner reichlichen Exfreundinnen sagen. Denn machen wir uns nichts vor, jeder, der sich für den Fall ein bisschen interessiert, spekuliert, welche Entscheidung wohl morgen dort im Landgericht Mannheim fallen wird.

Die beste Ehefrau von allen – bleiben wir noch ein bisschen beim Schwelgen in der Vergangenheit, numehr bei Ephraim Kishon – diese, die meine jedenfalls ist nicht nur ausgesprochen attraktiv, sondern auch noch intelligent (weswegen sie es mit mir „Armleuchter“ auch schon sehr lange aushält), und deswegen hat sie bei der Familienwette um die morgige Auswahl des Lokals zum Abendessen die schlaueste Version gewählt: „Freiheitsstrafe auf Bewährung“. Ich musste dann gegenhalten mit „Freispruch“, während unser Sohn – dem es mit seinen 6 Jahren sowieso egal ist und der auch noch gar nicht weiss, worum es geht, der aber natürlich der „Bestimmer“ hinsichtlich des Restaurants sein will – die undankbare „Freiheitsstrafe ohne Bewährung“ von uns zugewiesen erhielt.

Meine Wahl wird niemanden verwundern, denn bisher konnte man an meinen Blogeinträgen sicherlich den Eindruck gewinnen, dass für mich „Freispruch“ das einzig mögliche Ergebnis dieses Prozesses sein könnte. Und tatsächlich, aus rechtlicher Sicht sieht auch die beste Ehefrau von allen eigentlich kein anderes Urteil – nur denkt sie natürlich weiter – viel weiter, als aktivierte Alice-Schwarzer-Fangruppen jemals denken könnten: „Die wollen doch das Gesicht der Staatsanwaltschaft und ihr eigenes wahren, da müssen sie doch irgendeinen faulen Kompromiss finden… – minder schwerer Fall, Messser nicht nachweisbar, Rest schlüssig – 2 Jahre auf Bewährung!“

Da ist was dran, doch hätte zumindest das Gericht auch die Möglichkeit, einfach den Königsweg zu beschreiten und sich an den Bundesgerichtshof zu halten: BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98.

Und da sind wir nun angekommen, bei der Nullhypothese des BGH:

In der zitierten Entscheidung hat der Bundesgerichtshof klare Richtlinien für eine aussagepsychologische Begutachtung aufgestellt, und letztendlich sollten nicht nur die Gutachter diese Grundsätze einhalten, sondern eben auch ein Gericht, wenn es in der Situation „Aussage gegen Aussage“ urteilen will.

Doch was verlangt diese „Theorie“ der Nullhypothese (ohne, dass ich zu weit in die Tiefe gehen will):

  • Von dem Sachverhalt, der überprüft werden soll, wird zunächst angenommen, er sei komplett die Unwahrheit – damit hätten wir die „Nullhypothese“.
  • Jetzt hat der Sachverständige (und damit auch das Gericht) andere Hypothesen zu bilden. Ist dann die „Unwahrhypothese“ nicht mehr mit den bekannten Fakten aufrecht zu erhalten, gilt die Aussage als wahr.

Gut, so recht etwas damit anfangen kann man mit diesen Grundsätzen noch nicht, also müssen wir doch ein wenig tiefer schürfen:

Letztendlich muss derjenige, der eine Beurteilung der Aussage vornimmt, verschiedene Hypothesen prüfen, zB. die bewußte Falschbezichtigung des Angeklagten, eine fremdsuggestiven Beeinflussung des Zeugen oder das Auffüllen von Erinnerungslücken mit dem Ziel, diese „konstruktiv“ zu schliessen.

Nun, jetzt klingelt es sicherlich bei dem Einen oder Anderen, der sich noch an den Wortlaut der Presseerklärung des OLG Karlsruhe erinnert. Die dort die Entlassung von Kachelmann tragenden Gründe waren folgende:

  • Im Hinblick auf den den Tatvorwurf bestreitenden Angeklagten und die Nebenklägerin als einzige Belastungszeugin liege die Fallkonstellation der „Aussage gegen Aussage“ vor.
  • Bei der Nebenklägerin könnten Bestrafungs- und Falschbelastungsmotive nicht ausgeschlossen werden.
  • Die Nebenklägerin habe bei der Anzeigeerstattung und im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens zu Teilen der verfahrensgegenständlichen Vorgeschichte und des für die Beurteilung des Kerngeschehens (dem Vergewaltigungsvorwurf) bedeutsamen Randgeschehens zunächst unzutreffende Angaben gemacht.
  • Hinsichtlich der Verletzungen der Nebenklägerin könne derzeit aufgrund der bisher durchgeführten Untersuchungen und Begutachtungen neben einer Fremdbeibringung auch eine Selbstbeibringung nicht ausgeschlossen werden.

Oberlandesgericht Karlsruhe – Jörg Kachelmann: Haftbeschwerde hat Erfolg

Da haben wir sie, die Prüfung der Nullhypothese, wenn auch natürlich in einem summarischen Verfahren. Und nun stellt sich die Frage: hat die Hauptverhandlung tatsächlich etwas Anderes ergeben?

Nun, die nach allen Artikeln überdurchschnittlich gut plädierende Verteidigerin Andrea Combé hat sich durch den Wust der 40 vorangegangenen Verhandlungstage durchgewühlt – und sich dabei erkennbar ebenfalls mit der Nullhypothese auseinander gesetzt: gibt es Anzeichen dafür, dass diese Annahme der absoluten Unwahrheit der Aussage der Hauptbelastungszeugin unwahr ist? Nach ihrer umfänglich dargelegten Meinung: Nein!

Vergewaltigungsprozess: Tag der Abrechnung für Kachelmanns Anwälte – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Panorama.

Und damit könnte es eigentlich nur ein Ergebnis geben: Freispruch!

Und dies wäre noch nicht einmal schlimm für die Anzeigeerstatterin gewesen, wenn es nicht im Laufe dieses über alle Massen gedehnten Verfahrens eine Zuspitzung gegeben hätte: „Er oder Sie!“, „Gewinnen oder Verlieren!“.

Die Nullhypothese des BGH setzt nämlich gerade nicht voraus, dass die Aussage eines Zeugen unwahr ist, sonders sie unterstellt es lediglich hypothetisch und verlangt, dass diese Unterstellung entkräftet wird. Juristisch ist das Ergebnis also in Zweifelsfällen immer, dass man die Unwahrheit der Bekundung lediglich für den Ausgang des Strafverfahrens unterstellt, ohne damit die Unwahrheit selbst feststellen zu müssen.

Und damit schützt man nicht nur den Angeklagten in seinen verfassungsmässigen Rechten, sondern man schützt auch den Zeugen vor dem abschliessenden Vorwurf der Falschaussage.

Doch will das Landgericht Mannheim diesen Weg gehen, welcher in einem weniger aufgeheizten medialen Umfeld zu einer durchaus nachvollziehbaren Ergebnis geführt hätte: Freispruch des Angeklagten ohne Zuweisung einer Falschaussage an die Anzeigeerstatterin?

Aber leider ist nicht anzunehmen, dass die öffentliche Meinung selbst bei einem Freispruch so ein Ergebnis akzeptieren würde: man wird einen der beiden an den medialen Pranger stellen, und im Fall eines Freispruchs wird dies die Anzeigeerstatterin sein.

Doch ist dies nach meiner Einschätzung nicht die Verteidigung schuld, sondern die Staatsanwaltschaft durch ihre Initiierung des Prozesses in der durchgeführten Art – und das Gericht, weil es diesem Treiben auch der Medien nicht frühzeitig Einhalt geboten hat. Dabei war gerade dieser Prozess denkbar ungeeignet, um ein Exempel zu statuieren:

  • Der angeklagte Straftatbestand bietet (im Gegensatz zu einer Reihe anderer Straftatbestände, insbesondere im Nebenstrafrecht) keinen Grund der Kritik, denn niemand wird ernsthaft bestreiten, dass der Sachverhalt, der hier angeklagt worden ist, bei seinem Vorliegen zum einen strafbar zu sein hat, zum anderen in der vom Gesetz vorgegebenen Höhe bestraft werden muss.
  • Das Strafprozessrecht bietet zwar eine ganze Menge Anlass zur Kritik (interessanterweise übrigens gerade im Bereich des Schutzes des Einzelnen vor den Ermittlungsbehörden und im Bereich der Rechte der Verteidigung, aber das interessiert ja nur die Betroffenen – und wenn sie betroffen werden, dann ist es meistens zu spät), doch keine dieser Kritikpunkte war hier betroffen. Hätte sich die Staatsanwaltschaft und das Strafgericht an die anerkannten „Spielregeln“ der Strafprozessordnung gehalten und die Grundsätze eines für alle Seiten angemessenen Prozessverlaufs mit dem Ziel eines „fair trials“ für alle Seiten angewandt, würden wir seit Monaten nicht mehr diskutieren (und hätten wahrscheinlich über den Prozess an sich überhaupt nicht diskutiert).
  • Es ist eine besondere Konstellation vor Ort, die zu diesem von einigen schon als Justizskandal bezeichneten Verfahren geführt hat – und sie sprengt eben in einigen Bereichen so eklatant den normalen Rahmen, dass bestimmte Teile der Justiz diesem Verfahren anscheinend hilflos gegenüber stehen: man kann vorsichtig davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft in mindestens 80% aller Ermittlungen die Verfahren vor der Anklageerhebung einstellt (und diese 80% sind von mir als Kritiker der Staatsanwaltschaften durchaus vorsichtig angesetzt, wahrscheinlich ist die Einstellungsquote eher höher). Dies ist kein Fehler des Systems, sondern gerade eine seiner Stärken: es werden eben nur die sicheren Verfahren zur Anklage gebracht, um die Quote der Fehlverurteilungen und damit die Schädigung der Reputation des Rechtsstaates an sich möglichst gering zu halten. Wenn dieses System des sicheren Weges aber von der Staatsanwaltschaft in Ausnahmefällen ausser Kraft gesetzt wird, dann kann das Strafgericht darauf nicht angemessen reagieren, und wir haben solche Verfahren wie den Fall Kachelmann.Ein Strafprozess ist weder dafür vorgesehen, Opfer zu schützen, noch dazu geeignet. Kein juristisches System kann Beziehungsprobleme lösen. Ich habe über 2.000 Beziehungsprobleme juristisch begleitet (das bringt der Beruf des Fachanwalts für Familienrecht so mit sich), und wir haben jedes dieser Beziehungsprobleme juristisch gelöst (so oder so) – aber ich muss, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, einräumen, dass wir nicht eines der Beziehungsprobleme tatsächlich gelöst haben. Entweder war und ist es noch latent vorhanden (jeder Familienrechtler kennt diese Endlosverfahren, bei denen sich ein Prozess an den anderen reiht) oder sie wurden anderweitig gelöst – meistens durch Einsicht der an dem Beziehungsproblem Beteiligten mit Hilfe anderer Professionen als der der Juristerei.

Gleiches gilt für den Strafprozess: ihm liegt ein klarer „Vertrag“ zugrunde (man mag mir die folgenden sehr groben Ausführungen nachsehen, es soll ja kein rechtsphilosophisches Seminar werden): der Einzelne überträgt das Gewaltmonopol und damit die Strafgewalt auf den Staat und dieser wiederum garantiert ihm dafür Schutz vor Straftaten – und eben auch Schutz vor unberechtigter Bestrafung! Das ist die Überwindung des Faustrechts und der Blutfehde durch nachvollziehbare Prozesse.Doch das hat einen Preis: die überragende Legitimation der Strafgewalt muss gewährleistet sein – bricht diese zusammen, ist dieser Vertrag nichtig und die Willkür bricht aus. Und deswegen sind die Ziele sicherlich Generalprävention und Spezialprävention, doch dabei muss immer garantiert werden der Schutz vor der Straftat und genauso der Schutz vor der unberechtigten Bestrafung. Und wenn es zur (vermeintlichen) Straftat gekommen ist, dann geht es nicht mehr um den Schutz des schon entstandenen Opfers, sondern um die Bestrafung des Täters (der vor der unberechtigten Verurteilung zu schützen ist) und dem Schutz zukünftiger potentieller Opfer.

Man mag mir vorwerfen, dies wäre aus Opfersicht zynisch, doch ich schätze es nicht so ein, weil der juristische Prozess zum einen niemals geeignet ist, dem Opfer zu helfen, zum anderen in der Regel (wenn es sich um ein anständig geführtes Verfahren handelt) das Verfahren nur ein äusserst (auch zeitlich) begrenzter Abschnitt in der Therapierung des Opfers ist – und darum müsste es eigentlich gehen: um eine umfängliche und fachlich qualifizierte Betreuung von Opfern bei gleichzeitig möglichst massvoller Einwirkung auf das (vermeintliche) durch den Prozess an sich.

Aber kümmert sich jemand darum? Es geht den vielen in den Medien sich zu Wort meldenden „Opferanwälten“ doch nicht um diesen miesen und nicht quotenstärkenden Teil der Aufarbeitung von Verbrechen, denn da wäre man letztendlich selbst gefordert wird und könnte sich nicht mit Leerformeln wie der von der „erneuten Vergewaltigung“ billig aus der Schusslinie holen.

Nein, es geht darum, im Bereich der sexuell motivierten Gewaltkriminalität die Opferrolle zu verlagern – und zwar aufgrund nur leicht bemäntelter persönlicher und gesellschaftspolitischer Interessen. Und da kommt es dann zu so unsäglichen Verschiebungen wie der Aussage: „Andrea Combé konnte die Wahrheit der Aussage des Angeklagten auch nicht nachweisen!“ – Wer das System kritisiert, sollte es erst einmal kennenlernen, und da hilft vielleicht der Satz eines berühmten Juristen: „Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers!“ Max Alsberg, 1930, Strafverteidiger.

Wenn man Lehren aus diesem Prozess ziehen will, dann gehe man noch sorgfältiger bei der Anklageerhebung vor (denn nur dadurch verhindert man, dass in den Verfahren, in denen es trotz massiver Zweifel an der Unschuld nicht zur Anklage reicht, eine Verurteilung des Anzeigeerstatters als Lügner), man halte sich an die Regeln der Strafprozessordnung und führe die Verfahren stringent durch – und baue endlich Betreuungsangebote für Opfer auf, die den Namen wirklich verdienen.

Aber mal sehen, wer ab morgen um 09:50 Uhr noch für die Therapie der Opfer die Gelder einfordert und einbringt von denjenigen, die jetzt den Opferschutz im Strafverfahren so vehement fordern. Letztendlich ist dieser Opferschutz nämlich keine Aufgabe der Justiz – und das Versagen bei dieser Aufgabe kann damit auch dieser nicht angelastet werden.

Angelastet werden kann der Justiz aber sehr wohl, wenn sie sich nicht an ihre eigenen Grundsätze, hier letztendlich postuliert durch den BGH in Form der Nullhypothese, hält. Die Staatsanwaltschaft jedenfalls scheint diesen Sündenfall schon getan zu haben, und es wird sich morgen zeigen, ob das Gericht es gleichtut – oder eben nicht.

Ich werde übrigens meinem Sohn die Wahl des Restaurants überlassen, wenn Jörg Kachelmann freigesprochen wird…

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