Der Mörder des damals elfjährigen Jakob von Metzler, Magnus Gäfgen, erhält durch das Landgericht Frankfurt/Main einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 3.000,00 EUR gegen das Land Hessen zugesprochen.
Rechtsanwalt Professor Dr. Ralf Höcker erwirkt für den vom Vorwurf der Vergewaltigung in der ersten Instanz freigesprochenen Wettermoderator Jörg Kachelmann vor dem Landgericht Köln sowohl gegen die ehemalige Nebenklägerin als auch gegen eine das Urteil kommentierende Staatsanwältin sowie gegen diverse Zeitungen einstweilige Verfügungen und erreicht, dass der Vorwurf der Vergewaltigung gegen seinen Mandanten nicht mehr wiederholt und die von Prof. Höcker inzwischen als „Erfinderin des Vergewaltigungsvorwurfs“ bezeichnete Nebenklägerin nicht mehr als „Opfer“ oder „Geschädigte“ bezeichnet werden kann.
Was hat dies miteinander zu tun? Nun, es geht um die Frage, was muss ein Rechtsstaat ertragen, welchen Schutz dürfen Täter und Opfer beanspruchen – und wie reagiert ein Rechtssystem, eine Gesellschaft und deren Medien in Extremsituationen.
Fall Kachelmann
Im Fall Kachelmann haben wir weiterhin keine klaren Täter und Opfer, was den eigentlichen Vergewaltigungsprozess betrifft, wir haben aber einen erstinstanzlich freigesprochenen Angeklagten, der nicht nur während des Prozesses von vielen Seiten massiv vorverurteilt worden ist, sondern der sich nun auch damit auseinandersetzen muss, dass er trotz des Freispruchs weiterhin teilweise offen als Täter gebrandmarkt wird, teilweise subtil, indem man die Nebenklägerin als „Opfer“ oder „Geschädigte“ bezeichnet (denn das muss es ja einen „Täter“ bzw. „Schädiger“ geben…).
Dieser freigesprochene Angeklagte wählt nun – durchaus im Gegensatz zu vielen Anderen, die von schwerwiegenden Tatvorwürfen freigesprochen worden sind – die Offensive, und dabei geht er nicht nur – wie schon während des Prozesses – gegen die ihn heftig und teilweise ohne jede Sachlichkeit Attackierenden wie zB. Alice Schwarzer vor, sondern er weitet den Kreis der von ihm in Anspruch Genommenen erheblich aus: es sind nicht nur die direkten Berichterstatter und die direkt berichtenden Medien, sondern nun ist es auch die Nebenklägerin, es sind Kommentatoren des Prozessergebnisses, und es sind auch Medien, die Dritten ein Forum bieten, um ihre Meinung kund zu tun (Klick).
Dies hat schon eine andere Qualität, und es ist noch nicht klar, wie tief Jörg Kachelmann die Medien und insbesondere das Internet „durchforsten“ lassen wird, um dort gegen Verletzungen seiner Persönlichkeitsrechte vorzugehen. Die dahinter stehende Rechtsfrage, ob und in welchem Umfang auch der Betreiber eines Meinungsforums im Internet für die dort von Dritten eingestellten Beiträge haftet, ist sicherlich von grossem Interesse, doch hier geht es um eine andere Frage: muss der Rechtsstaat, muss die Gesellschaft so ein Vorgehen eines ehemaligen Angeklagten ertragen?
Und da sind wir natürlich auch bei dem Spiegelbild des Diskussion und damit im Kernbereich der medialen Auseinandersetzung der letzten Wochen und Monate abseits des eigentlichen Prozessgeschehens: was muss ein vermeintliches Opfer ertragen, wenn es den angeblichen Täter anzeigt? Was muss man einem Anzeigeerstatter bzw. einer Anzeigeerstatterin zumuten? Welchen Schutz hat er/sie verdient? Und wann endet dieser Schutz?
Schwierige Fragen, insbesondere dann, wenn sie von aussen derartig emotional aufgeladen werden, wie dies im Fall Kachelmann geschehen ist, d.h., wenn bestimmte interessierte Medien oder (vermeintliche) Medienvertreter den Prozess für ihre eigenen wirtschaftlichen oder persönlichen Interessen instrumentalisieren.
Es sei eine „neue Qualität der Unkultur der medialen Steuerung von Strafprozessen“, wenn Medien Zeuginnen vor ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung interviewten, sagte der Freiburger Oberstaatsanwalt und Vorsitzende des deutschen Richterbundes, Christoph Frank. Den Frauen drohe dadurch ein Glaubwürdigkeitsverlust in der öffentlichen Wahrnehmung und vor Gericht. „Es ist ein scheinheiliges, vordergründiges und zynisches Spiel mit den Belangen des Opferschutzes, wenn Opfer medial stigmatisiert werden, zugleich aber wirksamere Opferschutzregeln eingefordert werden.“ (Klick) Und damit spricht er einen wichtigen Punkt an: die auf der (vermeintlichen) Opferseite stehenden Personen brauchen ausserhalb des Gerichtssaals Schutz – und manchmal eben auch Schutz vor sich selbst, wenn sie Einflüsterungen und Verlockungen ausgesetzt werden, die ihnen vordergründig (wirtschaftliche) Vorteile versprechen, tatsächlich aber zu einer massiven persönlichen Schädigung führen können. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist es, dass im Gerichtssaal kein Weg daran vorbei führen kann, dass er/sie sich im Sinne eines fairen Prozesses nicht nur unangenehmen, sondern teilweise eben auch sehr belastenden Befragungen stellen muss. Dies verlangt die Unschuldvermutung zu Gunsten des mutmasslichen Täters, ein hohes Gut, dass es umfänglich zu schützen gilt.
Aber muss ein Rechtsstaat das ertragen, geht dann tatsächlich (vermeintlicher) Täterschutz zu Lasten des (mutmasslichen) Opferschutzes? In einem interessanten Interview in der Berliner Morgenpost hat sich Rechtsanwältin Erika Schreiber zum Thema Umgang mit Vergewaltigungen im Gerichtsalltag am 31.07.2011 geäussert; daraus einige Auszüge:
Zur Frage, ob man zu einer Strafanzeige raten sollte, sagte sie:
„Das mache ich immer vom einzelnen Fall abhängig, insbesondere wie die Beweissituation ist, ob auch objektive Beweismittel vorhanden sind wie DNA-Spuren, und ob das Opfer einer Straftat der psychischen Belastung eines Strafprozesses gewachsen ist. Letztlich aber erlebe ich es selten, dass Frauen nach dem Strafprozess enttäuscht sind. Aus meiner Praxis sind mir etliche Fälle bekannt, wonach Frauen, die keine Anzeige erstattet haben, noch Jahre später darunter leiden und dies bereuen.“
Zum Einfluss des Falles Kachelmann auf andere Verfahren:
„Es ist durch diesen Fall der Eindruck erstanden, dass das Opfer einer solchen Straftat keine Chance hat. Das stimmt aber nicht. Was stimmt, sind die hohen Anforderungen an die Qualität der Aussage der Belastungszeugin. Allerdings stützt der Fall das Vorurteil, dass Vergewaltigungsopfer sich die Tat ausdenken. Das aber ist nach meiner Erfahrung die absolute Ausnahme. Opfer solcher Straftaten sollten sich gut beraten lassen.“
Und zur Frage der Erwartungshaltungen gegenüber den (objektiven) Ermittlern:
„Es gibt häufig die Erwartung von Opfern, dass die Polizei ihnen glaubt, wenn sie Anzeige erstatten. Aber die Ermittlungsbehörden, also hier Polizei und Staatsanwaltschaft, müssen von Gesetzes wegen neutral sein und alle Beweise, für oder gegen die Tat, prüfen. Wenn die Betroffenen das wissen, gehen sie damit gelassener um. Opfer müssen wissen, dass sie berechtigt sind, schon für die erste polizeiliche Vernehmung einen Anwalt hinzuziehen können, der sie unterstützt.“
Der Opferschutz während des Prozesses ist also primär keine Frage des Rechtssystems, sondern eine solche der verantwortungsvollen Begleitung eines (vermeintlichen) Opfers direkt nach der (angeblichen) Tat sowie während und nach dem Prozess.
Eine solche verantwortungsvolle Begleitung müsste auch sicherstellen, dass ein Anzeigeerstatter bzw. eine Anzeigeerstatterin auf jede Art von Urteil angemessen vorbereitet ist – und dann angemessen reagieren kann. Und deswegen kann ein Rechtsstaat es nicht ertragen, wenn nach einem Freispruch der dann Freigesprochene weiterhin mit dem ehemaligen Vorwurf belastet wird – und zwar unabhängig davon, wie viele Restzweifel an seiner Unschuld verbleiben. Diese Restzweifel haben zu schweigen, und deswegen hat der Freigesprochene umfänglich das Recht, gegen diejenigen Personen vorzugehen, die die Vorwürfe weiterhin aufrecht halten oder sogar noch wiederholen. Und dabei müssen sowohl alle Beteiligten am Prozess wie auch alle den Prozess Beobachtenden akzeptieren, dass es nun einmal Fälle gibt, in denen eine endgültige Aufklärung des Sachverhalts nicht oder nicht vollständig möglich ist – auch das vermeintliche Opfer. Und auch wenn es vielleicht schwer zu ertragen ist: auch dieses Opfer muss das Urteil akzeptieren und ertragen, mit ihrer Version zu schweigen.
Der Fall Gäfgen
Im Fall des durch Magnus Gäfgen ermordeten Jakob von Metzler liegt der Fall anders: der Täter des eigentlichen Verbrechens ist unumstritten, die Tat in ihrer ganzen Monstrosität ist vollständig aufgeklärt und abgeurteilt.
Doch trotzdem stellen sich bohrende Fragen, weil sich der Täter plötzlich selbst in die Opferrolle begibt – und zunächst einmal objektiv auch bzgl. eines Teilaspekts des gesamten Geschehens auch tatsächlich Opfer ist: Opfer eines rechtswidrigen Verhaltens der Ermittlungsbehörden, die ihm letztendlich mit Folter gedroht haben.
Nun gibt es eigentlich keinen vernünftigen Zweifel, dass den zuständigen Polizeibeamten moralisch kein Vorwurf zu machen ist – sie haben abgewogen zwischen ihrem leider letzlich untauglichen Versuch der Rettung des Jungen und der Bedrohung und Nötigung des Täters, dem körperlich ja nicht ein einziges kleines Haar gekrümmt worden ist… Doch juristisch kann ein Rechtsstaat eine solche Drohung im Rahmen einer Güterabwägung nicht dulden, sie ist und bleibt rechtswidrig und verletzt damit in diesem Fall einen Mörder in seinen grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechten – und wäre selbst dann rechtswidrig gewesen und hätte diese Persönlichkeitsrechte verletzt, wenn der Junge lebend aufgefunden und so durch das Verhalten der Polizisten gerettet worden wäre. Auch dies muss der Rechtsstaat ertragen, und zwar frei von allen moralischen Rechtfertigungen des Verhaltens der Ermittler.
Glauben Sie mir, es fällt mir als Vater schwer, dies zu akzeptieren, und ich bin mir sicher, ich könnte es definitiv nicht, wenn es mein Kind wäre, dass hier auf das Schlimmste gelitten hat und am Ende zu Tode gekommen ist. Aber genau für diese Ausnahmefälle muss sich der Rechtsstaat und damit das Gewaltmonopol des Staates beweisen: auch der schlimmste Verbrecher hat einen Anspruch auf Wahrung bestimmter Rechte. Und deswegen muss er auch die Möglichkeit haben, sich nicht nur gegen rechtswidrige Eingriffe in seine Persönlichkeitsrechte wehren zu können, sondern eben auch eine Entschädigung zu fordern, wenn es einen solchen rechtswidrigen Eingriff gegeben hat.
Es ist emotional auch für mich kaum erträglich, aber auf diesem Auge ist Justitia blind und muss es auch sein. Und bei aller Verderbtheit, die eine solche Schadensersatzklage wie die des Mörders Gäfgen ausstrahlt: auch diese muss das Gericht nach den Buchstaben des Gesetztes erledigen, und die Gesellschaft muss dies ertragen.
Wer es nicht ertragen muss, sind die Angehörigen des Opfers, sie sind diejenigen, die mit Fug und Recht – aber im Rahmen der bestehenden Gesetze – ein solches Urteil zugunsten des Täters als moralisch falsch bezeichnen dürfen.
Und so ist es mehr als verständlich, wenn sich der Vater des Gäfgen-Opfers, Friedrich von Metzler, dahingehend äussert, dass die Gerichtsentscheidung für ihn kaum zu ertragen ist: „Das Urteil empört mich zutiefst, wir verstehen das nicht„.
Aber die Gesellschaft muss dieses Urteil ertragen, denn sie hat nicht das Leid der Eltern zu tragen, sondern nur das Mitleid. Und mit dieser Entscheidung siegt der Rechtsstaat tatsächlich moralisch über den Mörder: er, der Staat, und damit die Gesellschaft an sich, steht zu seiner Verantwortung für falsche Taten und setzt sich damit in krassem Gegensatz zu Gäfgen, der weiterhin seine Opferrolle auslebt, anstatt sich zu seiner Täterschaft zu bekennen.
Zurück bleibt eine Hilflosigkeit, die nur ein wenig darüber abgemildert wird, dass Jakobs Mörder keinen Nutzen aus diesem Urteil ziehen wird: die Entschädigung bleibt laut Frankfurter Staatsanwaltschaft in der Staatskasse. Der 36-Jährige habe aus dem Mordprozess noch 71 000 Euro Schulden bei der Justizkasse offen, die müssten erst beglichen werden, sagte Oberstaatsanwältin Doris Möller-Scheu (Klick). Immerhin!
Photo: www.pixelio.de
Konni Scheller
5. August 2011
Spricht da nicht
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=597111b376f38a3208ffd8dba7e75482&nr=56411&pos=0&anz=1
dagegen? Ein ähnlich gelagerter Fall, wo die Staatsanwaltschaft eine Strafe gegen eine Entschädigung verrechnen wollte.
stscherer
5. August 2011
Eine durchaus berechtigte Frage. bei dem Mörder Gäfgen ist davon auszugehen, dass er diese Frage wird klären lassen…
stscherer
5. August 2011
PS: Liebe Alina, vielen Dank für Dein Lob, auch wenn es umgehend der Zensur zum Opfer gefallen ist…
stscherer
6. August 2011
Machen wir es den hiesigen Lesern nicht so schwer und zitieren aus dem Trackback, den man über den dort eingestellten Link findet::
“ (…)
Nicht ganz so schlimm geht es bei der Rechtsnwaltssozietät Scherer & Körbes zu, und man ist dort mit dem Urteil im Ergebnis wohl auch einverstanden, aber das sind ja schließlich (unter anderem) Strafverteidiger. Umso bedauerlicher finde ich die Einschätzung, die Herr Scherer uns in seinem Blogpost zu der Sache mitteilt:
Nun gibt es eigentlich keinen vernünftigen Zweifel, dass den zuständigen Polizeibeamten moralisch kein Vorwurf zu machen ist
Man beachte: Hier schreibt ein Strafverteidiger, nicht ein CDU-Funktionär oder ein Polizeigewerkschafter. Man beachte bitte weiterhin: Herr Scherer hält es nicht nur für möglich, dass das Verhalten eines Polizeibeamten, der einem Verdächtigen Folter androht, moralisch irgendwie gerechtfertigt sein könnte. Mit der Position könnte ich mich vielleicht noch anfreunden. Herr Scherer behauptet, es gäbe keinen vernünftigen Zweifel, das den zuständigen Beamten moralisch kein Vorwurf zu machen ist.
Wow.
Ich meine: Wow. Mangels angemessener eigener Worte zitiere ich den vorzüglichen Beitrag drüben bei Fingerkuppenweitspucken.
Als sei Folter überhaupt ein effektives Instrument – man drückt auf den Knopf, und schon kommt die gewünschte Information. „Intensiver nachfragen“, dass ich nicht lache, Herr Witthaut. Seien Sie wenigstens ehrlich und nennen es „peinliche Befragung“, und wozu lernen Polizisten dann überhaupt Verhörtechniken und werden nicht gleich dazu ausgebildet, mit Kneifzangen kreative Dinge am Verdächtigen anzustellen? Ohne mich in praxi damit auszukennen, würde ich behaupten, dass die meisten „peinlich Befragten“ entweder a) fanatisiert genug sind, sogar Folter zu widerstehen, oder b) auf Zeit spielen und Irreführendes von sich geben, c) gar nichts wissen und verzweifelt irgendwas erfinden, um die Situation zu beenden, oder d) unter klassischen Befragungsmethoden genauso viel verraten würden. In keinem Falle gewinnt die Polizei irgendwas, sondern verliert nur Zeit beim Überprüfen von Angaben, die den Rechtsbruch nicht wert sind, durch den sie gewonnen wurden. Auch wenn die meisten Folterszenarien eine eindeutige Auflösung der Situation suggerieren, sobald man nur „intensiver nachfragen dürfte“ (große Güte, Herr Witthaut, sie haben mir echt den Tag verdorben), halte ich genau das für den Denkfehler, der emotional zwar völlig nachvollziehbar ist, uns aber rechtsstaatlich betrachtet in die Steinzeit zurück katapultieren würde.
Damit ist hierzu das Wesentliche gesagt. Es geht bei den Rechtsanwälten aber noch weiter:
[Die Angehörigen des Opfers] sind diejenigen, die mit Fug und Recht – aber im Rahmen der bestehenden Gesetze – ein solches Urteil zugunsten des Täters als moralisch falsch bezeichnen dürfen.
Nein, Herr Scherer. Ich meine, ja, Herr Scherer. Ich meine…
Anders: Ja, sie dürfen das Urteil als moralisch falsch bezeichnen. So wie auch jeder eine Käsereibe als Spargelschäler bezeichnen darf. Ich empfinde sogar ein gewisses Verständnis dafür, dass jemand geistig außer Stande ist, zu verstehen, wieso dem Mörder seines Sohnes ein Entschädigungsanspruch für irgendwas zustehen soll. Das liegt daran, dass ich weiß, dass die meisten Menschen in so einer Situation nicht mehr klar denken, und ich sollte es ihnen wohl nicht verübeln. (Anscheinend schaffen es die meisten von uns ja nicht einmal, wenn es der Sohn eines völlig Fremden ist.) Aber gerade das ist andererseits der springende Punkt: Die Angehörigen des Opfers denken nicht klar, und bezeichnen das Urteil deshalb zu Unrecht als moralisch falsch. Das Urteil ist es nämlich nicht, auch wenn man vielleicht irgendwie verstehen kann, dass es den Angehörigen des Opfers so vorkommt. Und ich beobachte mit Sorge, dass es anscheinend sogar einschlägig erfahrenen Juristen schwer fällt, den Unterschied zu erkennen.“
Der dortige Blogger, der sich „Muriel Silberstreif“ nennt, scheint sich mit einer Kernfrage nicht auseinandersetzen zu wollen – nämlich der Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen der Wahrnehmung einer Straftat durch einen direkt Beteiligten und der Wahrnehmung durch die gesamte Gesellschaft.
Eltern, die ihr Kind durch einen Mord verlieren, urteilen ungerecht, wenn sie eine Entschädigungszahlung an den Mörder ihres Sohnes als unerträglich bezeichnen.
Polizisten, die versuchen, durch die Androhung von Folter den Aufenthaltsort eines entführten, 11-jährigen Jungen herauszufinden, handeln rechtswidrig.
Darüber gibt es keinen Zweifel.
Aber sowohl die Eltern als auch die Polizisten haben in ihrem Unrecht, in ihrer Rechtswidrigkeit moralische Grundsätze, die für sie streiten, und ich achte diese moralischen Grundsätze. Würde ich dies als Jurist nicht tun, dann wäre ich ein äusserst schlechter Jurist. Dann würde ich nämlich auch nicht in der Lage sein, die übrigen moralischen Grundsätze zu achten, die unserem Rechtssystem nun einmal zugrunde liegen und die am Ende dazu führen, dass Gäfgen zu Recht eine Entschädigung erhält. Es mag schwer zu verstehen sein für jemanden, der sich selbst charakterisiert als „skeptisch, nonkonformistisch, antitheistisch und antireligiös, liberal – aber im Kern eher unpolitisch -, eher rational als emotional orientiert, omnivor und desorganisiert“ – was für eine beliebige Ansammlung von Fremdworten – aber manchmal gibt es zwei verschiedene Blickrichtungen, zwei verschiedene Denkansätze, und beide sind richtig.
Ja, Muriel Silberstreif, ich habe keinen vernünftigen Zweifel daran, dass diese Eltern alle moralische Rechtfertigung der Welt haben, dass Urteil und die Entschädigungszahlung unerträglich zu finden, und ich habe auch keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Polizisten moralisch gerechtfertigt sind – und ich bewundere sie ein Stück weit dafür, dass sie ihre eigenen moralischen Grundsätze über das Gesetz gestellt haben – und dafür die Konsequenzen getragen haben.
Wissen Sie, Muriel Silberstreif, es gibt eben Rechte, die kann man von theoretisch nicht einschränken, und doch werden sie tagtäglich durch die Lebenswirklichkeit eingeschränkt.
Ein Beispiel gefällig?
Niemand hat doch einen Zweifel daran, dass ein Feuerwehrmann ein Auto beschädigen darf, welches rechtswidrig vor einem Hydranten parkt, um damit dann die Löscharbeiten an einem Haus zu ermöglichen und dadurch vielleicht Menschenleben zu retten. Aber warum wird der Feuerwehrmann für seine Sachbeschädigung nicht bestraft? Weil das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums aus nachvollziehbaren moralischen Grundsätzen einen geringeren Stellenwert hat als das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Und würden sie jetzt so eine Debatte beginnen, wenn ein Gericht später zu dem Ergebnis käme, man hätte den Schlauch auch um das Auto herumlegen können, und deswegen dem Falschparker unter Berücksichtigung seiner Mitschuld einen anteiligen Entschädigungsanspruch zubilligt. Nein, würden sie nicht, sie würden akzeptieren, dass der Feuerwehrmann moralisch verständlich über das Ziel hinausgeschossen ist und deswegen auch der Falschparker Rechtsansprüche hat.
Tatsächlich, Muriel Silberstreif, manchmal sollte man genauer lesen, bevor man so zynisch urteilt, wie Sie dies tun: es geht mir um eine kleine Gruppe von Personen, die direkt beteiligt waren, die direkt in der Situation rechtswidrig handelten. Es ist eine Güterabwägung, die man im Nachhinein leicht aus dem Sessel mit den Füssen auf dem Tisch, vor dem Computer, hinter einem Pseudonym versteckt als falsch verwerfen kann – aber man kann sich auch die Mühe machen, sie angemessen zu prüfen, und dann komme ich zu dem Ergebnis, dass ich sie moralisch achten kann.
Die Gesellschaft allerdings muss ertragen, dass die Zahlung an Gäfgen dem Recht und dem Gesetz entspricht, weil die Polizisten ein Unrecht begangen haben, dass zu entschädigen ist. Und sie muss verstehen, dass die Rechtfertigung des Staates für sein Gewaltmonopol auch darauf beruht, dass er auch seine eigenen Rechtswidrigkeiten ahndet – sich quasi selbst bestraft.
So entspringt das Urteil, mit dem einem Kindesmörder ein Entschädigungsanspruch zugesprochen wird, weil ihn staatliche Behörden in seinen nicht einschränkbaren Persönlichkeitsrechten verletzt haben, zutiefst moralischen Grundsätzen – und es ist sogar genauso mutig wie das damalige Verhalten der Polizisten, denn es achtet entgegen dem „mainstream“ eben auch diese unveräusserlichen Persönlichkeitsrechte eines Menschen, der ein Kind gefoltert und getötet hat.
Damit schafft es ein Stück weit die Grundlage für ein Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur aus moralischen Grundsätzen, sondern auch zu Recht dazu entschlossen hat, die Entscheidung über Recht und Unrecht und die Entscheidung über Strafe nicht den emotional direkt Beteiligten zu überlassen.
Die Eltern des toten Jungen haben alle moralische Rechtfertigung, nicht aber das Recht, die Entschädigungsleistung unerträglich zu finden.
Die damals rechtswidrig handelnden Polizisten haben grossen Mut bewiesen – und trotzdem war es Unrecht, und deswegen mussten sie verurteilt werden.
Vielleicht ist dies tatsächlich zu schwer zu verstehen für jemanden, der in seinem Blog kein Impressum führt und dies hiermit begründet: „Nein, keine Sorge, ich heiße nicht wirklich Muriel Silberstreif. Ich hab nur einfach nicht den Mumm, hier unter meinem echten Namen zu schreiben.“
Muriel
6. August 2011
@stscherer: Sie haben sich offenbar über meinen Artikel geärgert und insgesamt keine besondere Sympathie für mich und mein Blog. Das ist verständlich, denn ich gehe Sie darin ziemlich scharf an, und ich will wohl eingestehen, dass ich manchmal dazu neige, den Unterhaltungswert dem angemessenen Tonfall überzuordnen. Meiner Meinung nach ist dies kein solcher Fall, aber wenn man die eigenen Fehler stets erkennen könnte, hätte man ja keine mehr.
Ich will nicht auf alles in Ihrer
Ich habe mich damit nicht näher auseinandergesetzt, das stimmt, weil es für mich nicht die Kernfrage hier ist. Ich bin aber darauf eingegangen und habe festgestellt, dass es diesen Unterschied natürlich gibt. Hier:
Ich stimme Ihnen also zu, dass die Angehörigen des Opfers die Dinge natürlich anders sehen als ich oder der Richter, und dass man das verstehen sollte. Ich widerspreche Ihnen nur insoweit, als Sie der Meinung sind, die Angehörigen des Opfers würden das Urteil „mit Fug und Recht“ als moralisch falsch bezeichnen. Das tun sie nicht, denn das Urteil ist aus meiner Sicht moralisch völlig in Ordnnug. Die Wahrnehmung und das Verständnis dafür ist das eine, die moralische Beurteilung das andere. Dass die Eltern und auch die Beamten eigene moralische Grundsätze haben, die von meinen abweichen, mag sein. Aber ich kann nicht zwei gegensätzliche moralische Grundsätze für richtig halten, ich muss mich für einen entscheiden. Ich halte naheliegendeweise die meinen für richtig, deswegen sind sie es ja. Wenn Sie mir erklären möchten, warum die anderen richtig sind, bin ich dafür aber offen.
Jetzt muss ich Sie beinahe fragen, ob Sie meinen Beitrag richtig gelesen haben. Das Handeln des Feuerwehrmanns ist in Ihrem Vergleich nicht rechtswidrig, und darüber hinaus hat der Feuerwehrmann sehr gute Gründe, anzunehmen, dass er durch sein Verhalten Menschenleben retten kann.
Wie der von mir zitierte Absatz des befreundeten Blogs Fingerkuppenweitspucken sehr schön darstellt, liegt der Fall bei den Polizisten im Fall Gäfgen völlig anders: Das Verhalten der Beamten war einwandfrei rechtswidrig, und zwar aus gutem Grund: Wir haben Folter nicht nur aus Gefühlsduselei verboten, sondern auch, weil wir erkannt haben, dass es kein gutes Verfahren zur Befragung ist, weil es keine zuverlässigen Informationen generiert. Da Mittel, das die Beamten angewandt haben, war also nicht nur rechtswidrig, sie hätten es auch aus der Vorher-Sicht für ungeeignet erkennen müssen, das angestrebte Ziel zu erreichen. Wenn ein Feuerwehrmann ein Auto beschädigt, das irgendo neben einem Hydranten steht, obwohl er den mühelos anders hätte erreichen können, wird er nicht von der Haftung befreit, oder?
Nun kann es sein, dass Sie das anders sehen als ich. Vielleicht halten Sie das moralische Urteil der Angehörigen für richtig und meines für falsch. Dann erklären Sie mir bitte, warum. Vielleicht sind Sie der Meinung, dass Folter doch ein geeignetes Mittel bei der Befragung von Verdächtigen ist. Auch dann würde mich interessieren, warum. Ich diskutiere gerne mit Ihnen darüber.
Aber ich glaube, die Diskussion wäre für uns beide leichter, wenn Sie aufhören würden, mir Zynismus zu unterstellen, oder dass ich Ihren Beitrag nicht richtig gelesen hätte, oder sich über Formulierungen zu mokieren, die ich in Beiträgen zu ganz anderen Themen benutzt habe. Meinen Sie nicht auch?
Muriel
6. August 2011
Hoppla, der Satz am Anfang sollte natürlich noch weitergehen. So war’s gedacht:
„Ich will nicht auf alles in Ihrer Erwiderung eingehen, aber ein paar Punkte sind mir doch wichtig.“
Dietmar
6. August 2011
Ich bin ein wenig erschüttert, Herr Scherer: Eine so lange Tirade, aber keine sachlichen Argumente.
Das Beispiel des Feuerwehrmanns ist richtig, passt hier aber nicht, denn es ging hier nicht darum, Rechtsgüter gegeneinander in einer akuten Gefahrensituation abwägen zu müssen. Wir könnten jetzt auch ergreifende Beispiele suchen, die den Konflikt von Körperverletzung zur Gefahrenabwehr oder bei Operationen beleuchten. Aber auch die hätten hiermit nichts zu tun.
Ich möchte dem ermittelnden Polizisten wirklich auf die Schulter klopfen. Die Familie tut mir leid; soetwas sollte niemand durchleiden müssen. Aber auch dies hat nichts damit zu tun, dass es unveräußerliche Rechte gibt. Dass unser Recht da keinen Unterschied macht, wem diese zustehen, unterscheidet unser Recht von einem Willkür-System.
Ich würde den Täter gerne verprügeln. Von mir aus könnte man ihn auf den Marktplatz treiben und langsam erschlagen. Ich würde ihm die Folter nicht nur androhen wollen, sondern auch ausüben. Ich finde, es träfe den Richtigen. All dies und mehr aus aufrichtiger Empörung über ihn und seine Tat und auf der Basis meiner Moralvorstellung. Und trotzdem bleibt es falsch und kann nicht Position eines Rechtsstaates sein. Dieser hat hier die Aufgabe, diesen Menschen vor solchen Bestrebungen zu schützen, eben wegen dessen unveräußerlicher Rechte.
Der Mann ist in meinen Augen ein erbärmliches Subjekt. Jeder, der auch nur einen Funken Anstand hat, würde nach seiner Verurteilung den Rand halten. Der Typ hat das nicht und wird das wohl nie haben. Und daran kann man nichts machen. Dass er solche Möglichkeiten nutzt, muss die Gesellschaft ertragen, weil es darum geht, rechtstaatlich zu handeln. Es wäre in meinen Augen das Richtige, die Bedeutung seines Winkelzuges nicht so aufzublasen und medial unaufgeregter zu behandeln. Man kann über diesen Mann eigentlich nur den Kopf schütteln.
Im Übrigen: Ist Ihnen denn gar nicht aufgefallen, dass ein Großteil Ihrer, ich nenne das jetzt noch einmal so, Tirade aus ad hominem-Attacken besteht? Ich bin kein Rechtsanwalt, aber solche Unsachlichkeiten sind ein deutliches Zeichen, dass die Argumente fehlen.
stscherer
6. August 2011
Ich bin ein wenig verwundert – haben Sie meinen Ausgangsbeitrag überhaupt gelesen? Ich denke, es ist nicht meine Aufgabe, in einer Replik noch einmal Alles zu wiederholen – im übrigen haben Sie dies ja inzwischen für mich getan, denn Ihr Eintrag ist ja eine schöne Zusammenfassung meiner Argumente.
Dietmar
6. August 2011
Falls ich gemeint sein sollte:
„haben Sie meinen Ausgangsbeitrag überhaupt gelesen?“
Äh, ja …
„denn Ihr Eintrag ist ja eine schöne Zusammenfassung meiner Argumente.“
Äh, nein …
Ich habe es ganz offensichtlich mit einem Rechtsanwalt zu tun …
stscherer
6. August 2011
Ich denke, dass die Eltern eines gefolterten und getöteten Kindes die moralische Berechtigung haben, ein solches Entschädigungsurteil unerträglich zu finden. Und genauso ist das Urteil moralisch richtig, wie ich mehrmals betont habe. Manchmal gibt es eben zwei Wahrheiten, so kompliziert ist das Leben.
Der Feuerwehrmann ist für seine Sachbeschädigung nur dann gerechtfertigt, weil er ein beschränkbares Rechtsgut in angemessener Weise verletzt. Er ist aber schon dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn er ein milderes Mittel hätte einsetzen können, wie ich im Einzelnen beschrieben habe – und wie Sie es bestätigen. Das ist eben das grosse Problem, welches Sie ihn vielen Notwehrsituationen haben – ein Dilemma, welches umso schwerer wiegt, je höherwertiger die Rechtsgüter sind, die miteinander streiten. Und darum geht es eben hier.
Ich denke nicht, dass das Verhalten der Polizisten so eindeutig rechtswidrig war, wie Sie es jetzt darstellen wollen. Nehmen wir einmal an, die Drohung mit Folter gegen Gäfgen hätte den Erfolg gehabt und den Jungen noch lebend aufgefunden – sagen wir mal, 10 Minuten, bevor er erstickt wäre. Was würden Sie denn dann sagen? Warum war es von Vornherein aussichtslos, immerhin hat der Kindesmörder den Leichenfundort bekannt gegeben – und konnten die Beamten von vorne herein ausschliessen, dass der Junge noch lebte? Wohl kaum!
Und deswegen finde ich es zynisch, jetzt im Nachhinein die Aktion als sinnlos darzustellen – rechtswidrig war sie allemal. Nur, noch einmal, wenn sie zum Erfolg geführt hätte – wie wäre Ihr Urteil dann ausgefallen?
Die Frage der von Ihnen gewünschten Diskussion greife ich gerne noch einmal auf – geben Sie mir ein paar Stunden Zeit!
Und Eines, meine Replik mag ein paar Spitzen Ihnen gegenüber enthalten haben – aber wie Sie selber schreiben, waren Sie auch nicht gerade zimperlich. Ich denke, da schenken wir uns nichts! Ich bin übrigens weder CDU-Politiker (ich stehe dieser Partei noch nicht einmal nahe…), ich bin auch kein Vertreter der Polizeigewerkschaft, und mir ist auch nicht schlecht geworden beim Lesen Ihres Blogbeitrags…
Dietmar
6. August 2011
Ah, jetzt verstehe ich: „Ausgangsbeitrag“! Nicht der Kommentar, auf den ich mich wiederum bezog. Bitte um Entschuldigung.
Dietmar
6. August 2011
„Nehmen wir einmal an, die Drohung mit Folter gegen Gäfgen hätte den Erfolg gehabt und den Jungen noch lebend aufgefunden – sagen wir mal, 10 Minuten, bevor er erstickt wäre. Was würden Sie denn dann sagen?“
Ich weiß nicht, was Muriel sagen würde. Ich würde auch dann sagen, dass das rechtswidrig war. Der Erfolg hat keinen Einfluss darauf, ob ein Mittel rechtmäßig ist.
Muriel
6. August 2011
@stscherer:
Ich will nicht unnötig kleinlich sein, und wir scheinen ja jetzt zu einem gesitteten Ton zu finden, aber den Punkt halte ich noch für wesentlich: Was mich an Ihrer Replik störte, waren die ad-hominem-Angriffe. Was hat es mit dieser Sache zu tun, ob und warum ich kein Impressum auf meinem Blog habe? (Übrigens, falls Sie mir eine Postkarte schicken wollen, oder so, fragen Sie gerne jederzeit nach meiner Adresse. Ist kein Geheimnis.)
Habe ich dergleichen behauptet? Sonst jemand?
Na, das ist doch ein Anfang.
Und ich denke, dass das völlig verschiedene Dinge sind. Die Eltern mögen die Berechtigung haben (auch wenn ich das anders sehe), das zu finden, aber sie haben nicht die Berechtigung, damit Recht zu haben. Wir sind uns ja einig, dass das Urteil moralisch richtig ist. Ich halte es nur für sonderbar zu behaupten, jemand könne gleichzeitig „mit Fug und Recht“ behaupten, es sei moralisch falsch.
Ach so. Dann verstehe ich nicht, wieso Sie Einwände gegen meine Wahrheit erheben… Wir können dann doch auch einfach beide Recht haben.
Im Ernst: Mir war es wichtig, dass die Frage, was die Eltern finden dürfen und die Frage, was richtig ist, unabhängig voneinander stehen. Ich kann die Eltern in ihrer Situation verstehen und trotzdem – offenbar genau wie Sie – das Gegenteil von dem richtig finden, was die Eltern denken.
Wenn ich mich da der Einfachheit halber noch mal selbst zitieren darf:
Ich halte die Rechtswidrigkeit zwar in der Tat für eindeutig, aber was die moralische Frage angeht, empfinde ich eine gewisse Sympathie für die Polizisten. Ich halte die Position, das Verhalten der Polizisten sei gerechtfertigt gewesen, für vertretbar, auch wenn ich sie nicht teile. Die Idee, es gäbe „keinen vernünftigen Zweifel“ wird dadurch nicht weniger abenteuerlich.
Genau das, was ich jetzt auch sage. Erstens ist ein Einzelall kein Beleg für irgendwas. Man kann Glück haben, und man kann Pech haben, das sagt nichts drüber aus, ob der Versuch eine gute Idee war. Wenn Sie Belege dafür kennen, dass Folter eine gute Verhörmethode ist, die zuverlässiger und schneller Informationen liefert als andere Methoden, zeigen Sie sie mir bitte, ich lerne gerne dazu. Es war sicher nicht aussichtslos, damit zu drohen, aber was spricht dafür, dass es kein milderes und besseres Mittel gab?
Es ist ja Wochenende. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Ich hab auch noch was vor.
stscherer
6. August 2011
Ein beliebtes Argument: der Rechtsanwalt, der einem das Wort im Munde herumdreht…
Fassen wir mal Ihre Argumente zusammen:
1. Sie haben Hochachtung vor den Polizisten – habe ich auch, und dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht.
2. Sie verstehen die Eltern und haben Mitleid mit ihnen – habe ich auch, und dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht
3. Die Aktion der Polizisten ist und bleibt rechtswidrig – habe ich genau so dargestellt.
4. Sie würden den Täter foltern und anderweitig in einer Weise bestrafen, die unser Strafrecht nicht vorsieht – subjektiv sehen dies die Eltern so – und ich sehe es auch so, und wir würden es sogar moralisch richtig finden, wenn es geschehen würde, oder?
5. Und trotzdem müssen die Rechte des Kindsmörders gewahrt bleiben.
All dies finden Sie in meinem Ausgangsbeitrag….
stscherer
6. August 2011
Aber natürlich wäre es denn weiterhin rechtswidrig gewesen – und natürlich wäre auch der Mörder für die Rechtswidrigkeit zu entschädigen gewesen.
Das ist eben der Unterschied zwischen Recht und Moral – nur hätte dann niemand die Diskussion angefangen, ob die rechtswidrige Tat nicht nur durch den Erfolg moralisch gerechtfertigt gewesen wäre…
stscherer
6. August 2011
Ich wundere mich, dass jemand, der nach seiner eigenen Aussage es scheut, unter seinem Namen zu veröffentlichen, sich dermassen negativ äussert über die Zivilcourage Anderer. Nichts Anderes ist es nämlich, wenn ein Polizeibeamter in genauer Kenntnis der Folgen, die dies für ihn haben kann, so handelt, wie dies in dem Fall geschehen ist.
Hand aufs Herz, wer sind sie: derjenige, der, um keine eigenen Repressalien zu erleiden, nicht alle Mittel ausschöpft, um einem anderen zu helfen, oder derjenige, der auch in Kenntnis der Gefahr für sich selbst trotzdem handelt. Natürlich haben die Polizisten rechtswidrig gehandelt, aber sie haben sich auch mutig verhalten – und sie schlafen wahrscheinlich heute ruhiger, weil sie wissen, Alles getan zu haben, um das Leben eines Elfjährigen zu retten. Ich bin mir definitiv nicht so sicher, ob ich so mutig gewesen wäre!
Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Eltern ein Recht im Rechtssinne haben, aber sie haben eine Berechtigung im moralischen Sinne, die Entscheidung des Gerichts über die Entschädigung unerträglich zu finden. Wobei ich übrigens keinerlei Problem damit habe, dass auch Sie Ihre Wahrheit für sich beanspruchen – genau deswegen wird mir ja beim Lesen Ihres Blogeintrags gerade nicht schlecht…
Im übrigen bin ich der festen Überzeugung, dass Folter an sich kein taugliches Mittel ist, um irgendetwas heraus zu bekommen, und es ist auch in einer ex-post Betrachtung immer rechtswidrig, zu foltern oder Folter auch nur anzudrohen. Und deswegen ist es auch Recht, die Polizisten zu verurteilen und den in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigten Kindermörder zu entschädigen.
Vielleicht war die Androhung von Gewalt objektiv kein gute Idee – auch wenn sie es immerhin den Eltern ermöglicht hat, ihr totes Kind angemessen zu bestatten -, aber subjektiv haben es die Polizisten als den letzten Ausweg gesehen, und deswegen sollten wir im Nachhinein auf dem Sofa oder vor dem PC sehr vorsichtig sein, darüber im moralischen Sinne zu richten.
Ich denke, wir können ein paar Gemeinsamkeiten finden:
1. Das Androhen von Folter war rechtswidrig.
2. Die Polizisten sind zu Recht verurteilt worden.
3. Die Entschädigung ist zu Recht zugesprochen worden.
Und wir leben mit unserer Uneinigkeit, ob es für die Tat der Polizisten und für die Empörung der Eltern des gefolterten und getöteten Jungen eine moralische Rechtfertigung gibt oder nicht.
Und abschliessen zitiere ich Ihren eigenen Blog auch einmal:
„Man beachte: Hier schreibt ein Strafverteidiger, nicht ein CDU-Funktionär oder ein Polizeigewerkschafter.“
und
„Sagte ich schon, dass mir schlecht ist? Vielleicht liegt’s ja am Essen.“
Letzteres war übrigens der abschliessende Stab, den Sie über meine Meinung gebrochen haben.
Muriel
6. August 2011
@stscherer: Gebrochen, der war gut.
Ich verzichte mal der Einfachheit halber darauf, hier was zu meinen Gründen für und gegen ein Impressum zu schreiben und beschränke mich auf Ihre These, die Polizisten hätten mit der Folterdrohung Zivilcourage gezeigt: Setzen Sie hier absichtlich in Ihrer Argumentation den Punkt voraus, um den wir gerade diskutieren, oder erkennen Sie tatsächlich nicht, dass ich Ihrer Prämisse von vornherein widerspreche, weil ich die Drohung eben für moralisch verwerflich halte? Mir ist auch ohnehin nicht klar, wohin uns die Frage führen soll, ob die Polizisten mutig waren und ob ich mehr oder weniger mutig gewesen wäre. Versuchen Sie, damit Ihre Bezugnahme auf mein Impressum zu rechtfertigen? Dann können wir uns das sparen. Den Punkt schenke ich Ihnen.
Dietmar
6. August 2011
Sehr geehrter Herr Scherer,
ich bin hier rethorisch falsch eingestiegen: Anstatt Ihrem Kommentar zu widersprechen, indem ich meine Kritik daran anhand meines Standpunktes frei formulierte, hätte ich ihn zu Ihrem Ausgangsartikel in Beziehung setzen müssen. Das war wirklich ärgerlich ungeschickt.
Ich habe es bei Muriel schon geschrieben, sage es hier noch einmal: Wie ich den Täter behandelt wissen will, habe ich überspitzt dargestellt, um klar zu machen, wie groß der Konflikt ist zwischen dem, was man subjektiv moralisch für gerechtfertigt hält, und dem, was objektiv moralisch und rechtlich gerechtfertigt ist. Das hätte ich deutlicher machen sollen; wirft in dieser Form ein etwas zu brutales Licht auf mich. Da wir da aber übereinstimmen, können wir das ja so stehen lassen.
„Ein beliebtes Argument: der Rechtsanwalt, der einem das Wort im Munde herumdreht…“
Das war ein Missverständnis, für das ich um Entschuldigung bat, und direkte Folge meines ungeschickten Einstiegs ist.
„Sie würden den Täter foltern und anderweitig in einer Weise bestrafen, die unser Strafrecht nicht vorsieht…“
Der Klarheit halber: Nein, wie oben erklärt.
„Ich wundere mich, dass jemand, der nach seiner eigenen Aussage es scheut, unter seinem Namen zu veröffentlichen, sich dermassen negativ äussert über die Zivilcourage Anderer.“
Sie wissen, das ist eine ad hominem-Attacke, wie ich sie kritisiere, und sie wissen, das hat keinerlei inhaltlich/sachliche Auswirkung auf die Argumente von Muriel, wenn er unter Pseudonym postet. Also was soll das?