Fall Kachelmann: Warum streitet man eigentlich so über §55 II StPO

Posted on 13. Oktober 2010

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© Niko Korte / pixelio.de

Was steht in §55 StPO?

1) Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

(2) Der Zeuge ist über sein Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren.

Wenn man das so ganz unvoreingenommen liest, dann denkt man doch eigentlich, dass es hier eine Selbstverständlichkeit sein müsste, ein vermeintliches Opfer, dass sich mit dem massiven Vorwurf der Falschverdächtigung schon seit Wochen und Monaten auseinander setzen muss, und an dessen wahrheitsgemässer Aussage nicht ganz unbekannte Sachverständige durchaus ihre Zweifel geäussert haben, natürlich im Sinn des §55 StPO belehrt werden sollte.

Aber  für mich überraschenderweise tut das Gericht das trotz mehrfachen Insistierens der Verteidigung nicht. Da drüngt sich die Frage auf: Was ist denn eigentlich die Folge einer fehlenden Belehrung für den Angeklagten und den Zeugen?

Angaben eines Zeugen ohne Belehrung über das ihm nach § 55 II StPO zustehende Auskunftsverweigerungsrecht machen die  Beweisgewinnung rechtswidrig. Streitig ist, ob daraus ein Verwertungsverbot erwächst. Nach einer Ansicht (z.B. Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Auflage, § 24 Rdnr. 36) ist ein Verwertungsverbot zu bejahen. § 55 StPO schütze auch das Interesse des Angeklagten an einer konfliktfreien, wahrheitsgemäßen Zeugenaussage. Die wohl h.M. verneint ein Verwertungsverbot. Nach der vom BGH anhand von § 55 StPO entwickelten Rechtskreistheorie das unter einem Verfahrensverstoß gewonnene Beweismittel ist unverwertbar, wenn die verletzte Vorschrift wesentlich dem Schutze des Rechtskreises des Beschuldigten dient [BGHSt 11, 213]) schützt § 55 StPO den Zeugen allein vor einer Selbstbelastung oder einer solchen naher Angehöriger. § 55 solle allein dem Konflikt des Zeugen dienen.

Also, die Aussage der Zeugin kann also wohl gegen den Angeklagten (und damit im vorliegenden Fall gegen Herrn Kachelmann) verwandt werden. Und allein in der fehlenden Belehrung dürfte wohl auch kein Revisionsgrund zu sehen sein, was die weitergehenden Anträge seiner Verteidiger schon allein im Hinblick auf ein solches Rechtsmittel verständlich werden lässt.

Aber was hat das nun alles für die Dame für Auswirkungen, deren bisherige Aussagen jedenfalls wohl nicht so über jeden Zweifel erhaben sind, als dass nicht zumindest die theoretische Möglichkeit besteht, dass sie die Unwahrheit sagt und dafür strafrechtlich belangt werden könnte.

Für sie ist die Sache wesentlich angenehmer, wenn es die Belehrung nicht gab: dann könnte sie nämlich selbst bei einer Vereidigung (und einer dann ja bestehenden Gefahr der Verurteilung wegen Meineids) nach der Rechtsprechung des BGH mit Strafmilderung rechnen, und bei einer uneidlichen Falschaussage stellt sich sogar die Frage, ob überhaupt eine Strafbarkeit gegeben ist – durchaus anerkannte Stimmen in der juristischen Literatur gehen bei einem Verstoss gegen §55II StPO sogar von Straffreiheit aus.

Und nun? Will man dem Gericht Böses unterstellen, dann könnte man annehmen, hier solle dem vermeintlichen Opfer trotz berechtigter Zweifel an ihren Aussagen eine Möglichkeit gegeben werden, diese weitgehend risikolos zu wiederholen; sieht man die Verhandlungsführung des Gerichtes positiv, so schützt man das Opfer durch ein solches Procedere – jedenfalls weitgehend – vor strafrechtlichem Regress, egal, wie die Aussage tatsächlich später zu bewerten ist.

Wie bei vielen Prozesshandlungen in diesem von grossem Medieninteresse begleiteten Verfahren bin ich mir sehr unsicher, was ich davon halten soll – meine ganz persönliche Meinung ist allerdings, dass ich die Zeugin als Richter belehrt hätte. Deswegen bleibt (allerdings nicht nur) diese Prozessführungshandlung des Gerichts überraschend. Ich bin sehr gespannt, was nicht nur in dieser Frage bei dem Prozess herauskommt, der nach meiner Einschätzung allerdings nicht vor dem Gericht erster Instanz enden wird.

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